Die neue Humustheorie und was wir daraus für die Landwirtschaft ableiten können
Neue Forschungsergebnisse stellen unser bisheriges Verständnis vom Humus grundlegend in Frage. Die Vorstellung, dass es sich beim Humus um eine Anreicherung abbauresistenter Substanzen handele, weicht allmählich der Gewissheit, dass Humus einem kontinuierlichen Abbau unterliegt. Nur in Bodenaggregaten und sogenannten Ton-Humus-Komplexen wird die organische Substanz vor mikrobiellem Abbau geschützt. Der sich abzeichnende Paradigmenwechsel hat auch direkte Implikationen für den Pflanzenbau. Der folgende Artikel ist der Versuch den aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen und Handlungsempfehlungen für die landwirtschaftliche Praxis abzuleiten.
Der wissenschaftliche sowie öffentliche Diskurs zum Thema Humus wird seit einiger Zeit stark von der hypothetischen Möglichkeit des Humusaufbaus als effektive Klimaschutzmaßnahme dominiert(1),(2). Der Gedanke ist durchaus naheliegend: die Böden der Welt speichern im Humus etwa zwei- bis dreimal so viel Kohlenstoff wie die gesamte Atmosphäre in Form von CO2 enthält. Durch bereits kleine Steigerungen der Humusgehalte könnten der Atmosphäre folglich klimarelevante Mengen CO2 entzogen werden. In ihrer praktischen Umsetzung erweist sich diese bestechende Idee jedoch als deutlich komplexer. Zum einen, weil durch den Klimawandel bedingte, höhere Bodentemperaturen den Humusabbau beschleunigen. Zum anderen, weil viele der Humusneubildung zugrundeliegenden Prozesse noch nicht vollständig verstanden sind. Dabei ist die Steigerung, zumindest aber der Erhalt der Bodenhumusgehalte, auch jenseits der Klimadebatte ureigenstes Interesse der Landwirtinnen und Landwirte, denn der Humusgehalt bestimmt maßgeblich und auf vielschichtige Weise die Fruchtbarkeit eines Standortes. Gründe genug sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Die klassische Humustheorie
Humus, auch als organische Bodensubstanz bezeichnet, ist definiert als die Gesamtheit aller in und auf dem Boden befindlichen, abgestorbenen, pflanzlichen und tierischen Streustoffe und deren organischen Umwandlungsprodukte(3). Der leicht zersetzbare Teil des Humus, der dem mikrobiellen Abbau unterliegt, wird klassischerweise als Nährhumus bezeichnet. Der stabile Teil, der durch mikrobielle Ab- und Umbauprozesse entsteht, die sogenannten Huminstoffe, bildet dagegen den Dauerhumus. Während der Nährhumus, der typischerweise etwa 10-20% der org. Bodensubstanz ausmacht, maßgeblich zur Ernährung des Bodenlebens und zur Nachlieferung von Nährstoffen beiträgt, ist der Dauerhumus mit rund 80-90% der organischen Bodensubstanz, für die Aggregatbildung und damit ein stabiles Bodengefüge entscheidend und verbessert außerdem die Wasser- und Nährstoffspeicherfähigkeit des Bodens. Nach der klassischen Humustheorie trägt leicht zersetzbare organische Substanz mit engem C/N-Verhältnis und niedrigen Ligningehalten zum Nährhumus bei. Im Gegensatz dazu fördert schwer zersetzbare organische Substanz mit weitem C/N-Verhältnis oder hohen Ligningehalten die Bildung von Dauerhumus.
Bereits auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurückgehende Untersuchungen der im Dauerhumus enthaltenen Huminstoffe haben den Grundstein für die bis heute überdauernde Vorstellung verschiedener Huminstoffgruppen gelegt. Basierend auf einer Extraktion mittels hochkonzentrierter Natronlauge wurden die Huminsstoffe anhand ihrer Löslichkeit in Huminsäuren, Fulvosäuren und Humine unterteilt, ohne dass es je gelungen wäre diese chemisch eindeutig zu charakterisieren(4). Huminsstoffe werden allgemein als ein Gemisch verschiedenster, hochmolekularer, in der Regel polycyclischer und stark vernetzter organischer Substanzen beschrieben(3). Zu Ihrer Entstehung gibt es zwei Theorien: Ursprünglich ging man davon aus, dass diese Moleküle während der Zersetzung organischen Materials durch die Mikroorganismen des Bodens neu gebildet würden (Humifizierung). Aus thermodynamischer Sicht war diese Theorie wenig überzeugend, da der aktive Aufbau komplexer Moleküle energieaufwändig ist. Es war nicht ersichtlich, warum die organische Substanz nicht komplett verstoffwechselt wurde. Diese Unstimmigkeit versuchte man durch eine zweite Theorie aufzulösen: Die Huminstoffe würden nicht aktiv gebildet, sondern es handele sich dabei um eine Anreicherung all jener Verbindungen, die während der Zersetzung organischen Materials übrigblieben, weil sie aufgrund ihrer Molekularstruktur gegenüber mikrobiellem Abbau resistent seien (z.B. Lignine)(4). Jüngere Untersuchungen zweifeln auch diese Theorie an. Sie belegen, dass sich Pflanzenreste und einzelne organische Stoffgruppen sehr wohl in ihrer Zersetzbarkeit unterscheiden, dass es aber eine wirkliche Resistenz gegenüber mikrobiellem Abbau in Realität nicht gibt(5).
Die neue Humustheorie
Eine weitere Schwachstelle der klassischen Humustheorie war der fehlende Nachweis der Huminstoffe im Boden selbst. Lange Zeit standen die dafür nötigen Analysetechniken schlicht und einfach nicht zur Verfügung, erst zu Beginn der 2000er standen spektroskopische Techniken bereit (NanoSIMS), die eine Untersuchung der organischen Bodensubstanz direkt im Boden, also ohne Extraktionsschritt, ermöglichten(6),(7). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren revolutionär. Die Huminstoffe, wie man sie bislang beschrieben hatte, fand man im Boden nicht. Die Verbindungen, die den Dauerhumus ausmachten, waren genau die einfachen Moleküle, z.B. Proteine, Lipide oder Polysacharide, die insbesondere beim mikrobiellen Abbau leicht zersetzbarer Pflanzenreste entstehen(4),(8). Keinesfalls handelte es sich um die komplexen und stabilen Verbindungen, die man in den alkalischen Extrakten gefunden hatte, Huminstoffe schienen ein Artefakt des Extraktionsverfahren zu sein.
Stattdessen ließ sich die Stabilität der Dauerhumusfraktion auf einen anderen Umstand zurückführen. Die besonders alte organische Bodensubstanz fand sich auf den Oberflächen der Tonmineralien. Calcium- oder Aluminium-Kationen fungieren dabei als Brückenbildner für sogenannte Ton-Humus-Komplexe, durch die die organische Bodensubstanz effektiv vor mikrobiellem Abbau geschützt wird (siehe Grafik)(3). Noch etwas war auffällig: In den Ton-Humus-Komplexen entdeckte man einen hohen Anteil mikrobieller Zellwandbestandteile - ein Hinweis auf abgestorbene Mikroorganismen(8). Hier lag die klassische Humustheorie also doch nicht ganz falsch, das Bodenmikrobiom ist entscheidend für die Humusneubildung. Aber damit die mikrobiellen Abbauprodukte und Überreste abgestorbener Mikroorganismen in Ton- Humus-Komplexen stabilisiert werden können, müssen die Mikroben ihr Futter in unmittelbarer Nähe der Tonpartikel verdauen, sprich Organik und mineralische Bodenmatrix müssen in direkten Kontakt kommen. Am effektivsten scheint dies durch Pflanzenwurzeln und insbesondere ihre Ausscheidungen (Wurzelexsudate) bewerkstelligt zu werden. Auch wenn diese Ergebnisse noch nicht sehr konsolidiert sind, zeichnet sich ab, dass Wurzelexsudate, die in den Boden hineindiffundieren und sich so fein verteilen, um ein Vielfaches (Faktor 2-10) effektiver zum Aufbau stabiler Ton-Humus-Komplexe beitragen als abgestorbene Pflanzen- und Wurzelreste oder Wirtschaftsdünger(9),(10). Letztere tragen nach der neuen Humustheorie eher zur sogenannten partikulären organischen Substanz, auf Englisch particulate organic matter (POM), bei(11). Diese beschreibt in Bodenaggregaten eingeschlossene Streustoffe, die durch den Einschluss konserviert werden(3). Eine Ausnahme bilden Pflanzen- oder Erntereste, die als Mulchauflage auf dem Acker verbleiben. Diese dienen den Regenwürmern als Nahrung, durch die im Darm der Tiere stattfindende Durchmischung mit dem Mineralboden wird die Organik hier wiederum sehr effektiv in Ton-Humus-Komplexen stabilisiert.
Konsequenzen für die Landwirtschaft
1) Humus durch intaktes Bodengefüge vor mikrobiellem Abbau schützen
Der erste Paradigmenwechsel, der sich aus der neuen Humustheorie ergibt: Humus unterliegt einem kontinuierlichen Abbau. Der als Dauerhumus bezeichnete Teil ist keineswegs resistent gegenüber mikrobiellem Abbau, sondern nur solange geschützt wie er in Bodenaggregaten eingeschlossen (POM) oder an Tonmineralien sorbiert (Ton-Humus-Komplexe) vorliegt(4),(8). Der in der POM-Fraktion gespeicherte Kohlenstoff überdauert Jahrzehnte bis wenige Jahrhunderte im Boden, der in den Ton-Humus- Komplexen gespeicherte Kohlenstoff kann viele Jahrhunderte im Boden überdauern.
Für die Stabilisierung der Aggregate und die Bildung der Ton-Humus-Komplexe ist in unseren Breiten Calcium der entscheidende Brückenbildner(3). Wird die Calcium- Versorgung eines Standorts vernachlässigt, leidet die Bodenstruktur, die organische Bodensubstanz wird weniger gut stabilisiert und es kann zu Humusverlusten kommen(12),(13). Intensive Bodenbearbeitung schädigt ebenfalls die Bodenstruktur. Durch den mechanischen Eingriff werden Aggregate aufgebrochen, die darin konservierte organische Bodensubstanz wird freigelegt und durch das Bodenleben verstoffwechselt. Der einer Bodenbearbeitung folgende Mineralisationsschub ist ein Indiz dafür. Durch die mechanische Bodenbearbeitung haben Ackerböden im Vergleich zu Grünland- oder Waldböden typischerweise deutlich niedrigere Gehalte an partikulärer organischer Substanz (POM)(14).
2) Mikrobielle Aktivität für die Humusneubildung fördern
Was zunächst kontraintuitiv erscheint, ist die zweite wichtige Erkenntnis aus der neuen Humustheorie. Sowohl für die Bildung der partikulären organischen Substanz als auch für die Entstehung von Ton-Humus-Komplexen bedarf es eines aktiven Bodenlebens(15). Die Verklebung der Bodenpartikel zu Aggregaten (POM) wird maßgeblich durch pflanzliche und mikrobielle Schleimstoffe und durch das von Pilzhyphen produzierte Glomalin gefördert. Bei dem in Form von Ton-Humus- Komplexen stabilisierten Kohlenstoff handelt es sich zum Großteil um Stoffwechselprodukte und Zellwandbestandteile von Mikroorganismen(8),(10),(16). Mikrobielle Aktivität ist also eine Grundvoraussetzung für die Humusneubildung.
3) Das Bodenleben kontinuierlich ernähren
Ein aktives Bodenmikrobiom braucht Nahrung. Solange es durch einen wachsenden Pflanzenbestand ernährt wird, trägt es zur Humusneubildung bei. Sinkt das Nahrungsangebot, z.B., weil der Boden brachliegt, wird es sich am Humus bedienen. Dies ist ganz besonders im Sommer nach der Ernte relevant, da die mikrobielle Aktivität dann aufgrund erhöhter Bodentemperaturen besonders hoch ist - ausreichende Bodenfeuchte vorausgesetzt. Am konsequentesten lässt sich eine kontinuierliche Ernährung des Bodenlebens durch eine Dauerbegrünung erreichen. Die Umwandlung von Acker in Dauergrünland ist nicht umsonst die effektivste Möglichkeit Humus aufzubauen. In ackerbaulichen Systemen sollten Brachezeiten durch Zwischenfruchtanbau, idealerweise Untersaaten, minimiert werden.
Zu Nahrungsengpässen und damit verbundenem Humusabbau kann es aber auch nach einer Düngung kommen. Dieses Phänomen wird als Priming-Effekt bezeichnet(17). Insbesondere nach der Düngung leicht zersetzbarer organischer Substanz (aber auch mineralischer N-Dünger), kann es zu einer überschießenden mikrobiellen Aktivität kommen, die mehr Kohlenstoff veratmet als ursprünglich zugeführt wurde. Folglich kann es auch dann effektiv zu einem Humusabbau kommen. Bei sich langsam zersetzenden organischen Düngemitteln (z.B. Rottemist oder Kompost) ist dies weniger relevant, sie gelten daher gemeinhin als Humus-fördernd.
Fazit
Es dürfte klar sein, dass in der landwirtschaftlichen Praxis nicht alle der vorgeschlagenen, Humus-fördernden Maßnahmen konsequent umgesetzt werden können. Einige der aus der neuen Humustheorie abgeleiteten Empfehlungen müssen noch durch pflanzenbauliche Experimente überprüft werden. Die neue Humustheorie ist zunächst der Versuch die im Boden ablaufenden Prozesse zu beschreiben. Und vieles spricht dafür, dass sie dabei der Wirklichkeit deutlich näherkommt als unsere klassische Humustheorie. Damit bietet sie Orientierung für ein Bodenmanagement, das unsere Böden als lebendiges Ökosystems anerkennt und unsere Bodenfruchtbarkeit sowie Bodengesundheit langfristig erhält.
Glossar
- Humus oder Organische Bodensubstanz
- Alle in und auf dem Boden befindlichen, abgestorbenen, pflanzlichen und tierischen Streustoffe (Detritus) und deren organischen Umwandlungsprodukte (Huminstoffe).
- Streustoffe oder Detritus
- Nicht oder nur schwach umgewandelte abgestorbene Pflanzenreste / Wurzelreste / Bodenorganismen. Die Gewebestrukturen sind noch erkennbar.
- Huminstoffe
- Durch das Bodenmikrobiom gebildete organische Umwandlungsprodukte ohne erkennbare Gewebestrukturen. Diese werden in Abhängigkeit ihrer Löslichkeit in Huminsäuren, Fulvosäuren und Humine unterteilt. Dieser dunkel gefärbte, hochmolekulare, polycyclische und gegen weiteren Abbau relativ stabile Teil der organischen Bodensubstanz ist bislang nur in alkalischen Bodenextrakten nachgewiesen worden, ein direkter Nachweis im Boden ist nach wie vor nicht erbracht worden.
- Nährhumus
- Klassische Bezeichnung für den leicht zersetzbaren Teil der organischen Bodensubstanz. Der Nährhumus ernährt das Bodenleben. Durch Abbau des Nährhumus werden Nährstoffe freigesetzt, die der Pflanzenernährung zugutekommen.
- Dauerhumus
- Klassische Bezeichnung für den gegen Abbau relativ stabilen Teil der organischen Bodensubstanz (= Huminstoffe). Der Dauerhumus trägt maßgeblich zum Bodengefüge, sowie der Wasser- und Nährstoffspeicherfähigkeit von Böden bei.
- Ton-Humus-Komplexe (engl. MAOM ~ mineral associated organic matter)
- Durch Wechselwirkungen mit den Tonmineralien gegen Abbau stabilisierte organische Substanz. Spektroskopische Untersuchungen haben ergeben, dass es sich bei der an den Tonmineralien gebundenen organischen Substanz um niedermolekulare, eigentlich leicht verdauliche organische Verbindungen (Proteine, Lipide, Polysacharide) handelt. Die negativ geladenen Carboxyl-Gruppen dieser Verbindungen werden durch 2- und 3-wertige Kationen, in unseren Breiten primär durch Ca2+-Ionen, an die Tonmineralien gebunden und so vor mikrobiellem Abbau geschützt. Als Ton-Humus-Komplex kann die organische Substanz mehrere hundert Jahre im Boden überdauern.
- Partikuläre organische Substanz (engl. POM ~ particulate organic matter)
- Bezeichnet partikulär (0,053-2,00mm) vorliegende organische Substanz. Beinhaltet freiliegende, dem mikrobiellen Abbau unterliegende organische Substanz (Streustoffe) und Aggregat-geschützte organische Substanz. In letzterer Form kann die organische Substanz über Jahrzehnte im Boden überdauern.
Quellen
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Autor: Dr. Konrad Egenolf